Bittere Pillen für Arbeitsuchende
Flexibilität und Mobilität zählen zu den Schlagworten des Erfolgs. Doch was früher als positive Eigenschaft galt, wird von den Arbeitsämtern zunehmend zwangsverordnet.
Die Zahlen sprechen ihre eigene Sprache: Allein vom ersten Halbjahr des Jahres 2002 bis zum ersten Halbjahr 2003 nahm die Zahl der verhängten Sperrzeiten, in denen den "Leistungsempfängern" der Bezug des Arbeitslosengeldes gestrichen wird, von 1000 Fällen auf 3500 Fälle zu. Diese Zahl nennt Olaf Möller, Pressesprecher des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg.
Das Arbeitsamt misst Bemühungen in Sperrzeiten
"Daran kann man erkennen, dass unsere Versuche, in fremde Berufe zu vermitteln, stark angestiegen sind", ergänzt er. Eine konkrete Gesetzgebung, die vorschreibt, welche Entfernung vom Heimatort geboten ist und wie stark sich der angebotene Job vom erlernten Beruf unterscheidet, gäbe es nicht. "Das wird immer im Einzelfall entschieden", sagt Möller, und betont, dass es höchste Zeit sei, von der Mentalität des Anspruch-Ausschöpfens zur Frage zu gelangen, wieweit der Arbeitssuchende tragbar für die Gesellschaft sei.
Natürlich versuche jedes Arbeitsamt, zuerst die Job-Lage in der entsprechenden Berufskennziffer auf dem ersten Arbeitsmarkt zu sondieren. Doch wenn hier keine Vermittlung zustande kommt, müssen auch andere Regionen und buchstäblich jeder andere Job in Betracht gezogen werden. Mit der enormen Zunahme der Sperrzeiten ist natürlich auch die Zahl der Inanspruchnahme rechtlichen Beistands gegen jene "unzumutbaren" Vermittlungsvorschläge gestiegen.
Rechtliche Schützenhilfe unabdingbar
"Den früher im Arbeitsförderungsrecht existierenden Berufsschutz gibt es nicht mehr", sagt Rechtsanwalt Urs Culemann. Die Frage der Zumutbarkeit der Aufnahme einer bestimmten Beschäftigung hängt nunmehr vorrangig von der Höhe des durch die Beschäftigung erzielbaren Arbeitsentgeltes ab, heißt es dazu im Sozialgesetzbuch. "Grundsätzlich wird vom Arbeitslosen heute verlangt, für die Aufnahme einer zumutbaren Beschäftigung außerhalb des Pendelbereichs umzuziehen", so Culemann.
Bei Fragen, die die Versetzung des Arbeitsnehmers durch den Arbeitgeber betreffen, empfiehlt Culemann, einen Blick in den Arbeitsvertrag zu werfen. "Sofern dort nichts anderes geregelt ist, gilt als vertraglich festgelegter Arbeitsort der Betriebsort". Der Arbeitgeber könne in diesem Fall keine Versetzung des Arbeitnehmers in einen anderorts gelegenen Betrieb verlangen. Culemann: "Viele Arbeitsverträge enthalten aber Klauseln, die eine Versetzung des Arbeitnehmers vorsehen, soweit eine solche aus betrieblichen Gründen erforderlich ist."
Zumtungen schaffen keine Arbeitsplätze
Bekanntlich möchte die Hartz-Kommission die Vermittlung von Arbeitslosen beschleunigen und verbessern. "Arbeitsplätze entstehen nicht, indem Arbeitslose durch neue 'Zumutbarkeit' zu sozialem und beruflichem Abstieg und zur Aufnahme ungeschützter Arbeit genötigt werden", meint Rechtsanwalt Dr. Henner Wolter aus Berlin. In einer "gemeinsamen Erklärung: Hartz-Papier und Arbeitsrecht" plädiert Wolter für eine Abkehr von der bisherigen
Sparpolitik.
Insbesondere fordert Wolter, dass "die Maßstäbe über die Zumutbarkeit nachgewiesener Arbeit nicht nochmals zu Lasten der Arbeitslosen verschärft werden", der Kündigungsschutz nicht verschlechtert werden dürfe, und Leiharbeit nicht ausgeweitet, sondern eingeschränkt gehört. Die so genannte "Ich-AG" dürfe laut Wolter nicht dazu herhalten, betriebliche Arbeit aus den Rechten und Bindungen des bisherigen Arbeitsrechtes herauszulösen.
Ohne Zuckerbrot ist schlecht arbeiten
Außerdem dürften die Grenzen so genannter geringfügiger Arbeit nicht heraufgesetzt werden. "Wir haben die Erklärung an die zuständige Stelle in der Bundesregierung geschickt, aber als Antwort bekamen wir lediglich einen Brief, in dem sinngemäß stand, dass alles gut sei, was sie machten", sagt Wolter.
Auf einen mentalen Aspekt der neuen Zwangsmobilität macht Psychologin Madeleine Leitner aufmerksam: "Die eingeschränkte Wahlfreiheit bei Berufs- oder Ortswechsel führt oft dazu, dass das, was der Arbeitnehmer machen soll, abgewertet wird." In der Psychologie beschreibt man diesen Effekt als "Reaktanz". Die neue Situation werde dann negativ gesehen, der Arbeitgeber würde es mit einer "beleidigten Leberwurst" zu tun kriegen.
Leitner hält den Verantwortlichen vor, sich nicht tiefgehend mit der Materie zu befassen und sieht eine hysterische Meinungsmache gegen angebliche "Sozialschmarotzer": "Für mich sieht das nach einer reinen Alibigeschichte aus."
(Dirk Engelhardt / Bild: Eyewire)
Quelle: Jobpilot