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23.11.2004, 13:35

"Hooliganismus?" - Ein Zeitungs-Artikel

Aus der Schweizerischen WoZ (Wochenzeitung) vom 11. November.
Ich denke mal das Thema ist in Deutschland genauso präsent - die WM ist ja schon in eineinhalb Jahren.

(Erstaunlich ist für mich, dass dieser Artikel aus einer sehr linksorientierten Zeitung kommt, aber das hat eigentlich nichts damit zu tun).

Professionnelle Fanarbeit tut Not

Sammelbegriff Hooliganismus

Ob sie Schneebälle werfen, Fackeln zünden oder sich prügeln: Unartige Fans werden pauschal als Hooligans verschrien. Differenziert wird kaum, bei Verband und Vereinen mangelt es an Fachkompetenz.



Dem Schweizer Fussball wird seit einigen Wochen eine beachtliche Aufmerksamkeit zuteil: Schafft er es mit seinem Spielbetrieb selten über die Sportseiten der Tageszeitungen hinaus, ist er nun regelmässig auch in den Nachrichtenspalten vertreten. Die Ausschreitungen, Prügeleien, Provokationen und pyrotechnischen Einlagen, medial vereinfacht unter dem irreführenden Begriff «Hooliganismus» zusammengefasst, die sich rund um Schweizer Cup- und Meisterschaftsspiele zugetragen haben, versetzen das Land in Schrecken.

Morgen Freitag entscheidet die Präsidentenkonferenz der Swiss Football League (SFL), in der die beiden höchsten Schweizer Spielklassen vertreten sind, über die Wiedereinführung der Kausalhaftung im Schweizer Fussball. Der FC Zürich hatte vor zwei Jahren per Gerichtsentscheid erwirkt, dass Fussballvereine nicht pauschal für das Verhalten ihrer Fans bei Auswärtsspielen verantwortlich gemacht werden können. «Die Wiedereinführung der Kausalhaftung hat als primäres Ziel, die Gewaltspirale zu brechen», sagt Thomas Helbling, Präsident der Sicherheits- und Fankommission der SFL. Helblings Sorge ist verständlich, ist der Besuch gewisser Spiele der Super League heute doch mit einigen Unabwägbarkeiten und für Kinder oder ältere Menschen gar mit Risiken verbunden (auch im Jahr 2004 unterscheidet Tränengas nicht zwischen Freund und Feind). Ob die Kausalhaftung die bestehenden Probleme löst, ist hingegen genau so zu bezweifeln wie die in diesem Zusammenhang geäusserte Behauptung, die Aufhebung der Kausalhaftung habe das Verhalten von Gästefans wesentlich beeinflusst.



Ultras sind keine Hooligans



In der Debatte um Gewalt bei Sportanlässen ist es unerlässlich, zu differenzieren und die als «Hooliganismus» betitelten Vorkommnisse genauer zu untersuchen. Worauf die Kausalhaftung abzielt, sind störende Ereignisse im Stadion. Hooligans spielen dort jedoch kaum mehr eine Rolle. Sie sind in erster Linie auf Prügeleien mit gegnerischen Hooligans aus, wozu es selbst in Schweizer Stadien nicht mehr kommen kann, weil die Fansektoren klar getrennt sind. Hooligan-Boxereien finden, oft nach gemeinsamer Absprache, ausserhalb der Stadien statt. Dort jedoch greift die Kausalhaftung nicht. Was in den Stadien, in den Fankurven an Auffälligem geschieht, geht von den Ultra-orientierten Fans aus. Sie gleichzusetzen mit Hooligans, die sich von einer optischen und akustischen Unterstützung der Mannschaft längst verabschiedet haben, ist ein überaus ärgerlicher Fehler vieler Medienschaffender hierzulande. Ultras lehnen sich in ihrem Verhalten und ihren Mitteln stark an italienische und französische Vorbilder an. Sie verstehen die Fankurve als ihr Hoheitsgebiet, in dem sie sich entfalten und ihrer Auffassung von Fan-Sein freien Lauf lassen können. Es sind die Ultra-Orientierten und ihnen Nahestehende, welche die teils irrwitzigen Choreographien erarbeiten, durchführen und bezahlen, neue Lieder kreieren und anstimmen und einen grossen Teil ihrer Freizeit für den Fussball opfern. Und es sind die Ultra-Orientierten, die zur Ausschmückung ihrer Aktionen (und angespornt von Fernsehbildern aller Sportkanäle) mit Leuchtfackeln und Rauch oft auch verbotene Materialien einsetzen. Zum falschen Hooligan-Stigma kommt deshalb ein weiterer medialer Irrtum hinzu: Es lässt sich eben gerade nicht trennen zwischen den «richtigen» Fans mit ihren farbigen Choreographien und den ergreifenden Gesängen und den «Chaoten», die Feuerwerk zünden, am Zaun rütteln und immer öfter auch an die Polizei geraten. Es sind zu weiten Teilen dieselben.

Michael Gabriel von der Koordinationsstelle deutscher Fanprojekte (KOS) in Frankfurt ist mit der Diskussion vertraut, die gegenwärtig in der Schweiz geführt wird. Deutschland, so sind sich Fachleute einig, ist der Schweiz in Sachen Fan-Arbeit rund zehn Jahre voraus. Am Beispiel der Ultras Frankfurt, einer der ältesten und einflussreichsten Ultra-Gruppierungen Deutschlands, erlebt Gabriel regelmässig, wie im Umgang mit Fussballfans Probleme entstehen. «Polizei und Vereine haben über Jahre falsch auf die Ultras reagiert. Die wollten ja die Mannschaft unterstützen und Stimmung machen», erklärt er. Stattdessen, und hier decken sich seine Erfahrungen mit den Beispielen aus der Schweiz, wurden sie als Gefahr wahrgenommen: «Kennen wir nicht, verstehen wir nicht, wollen wir nicht», kann verkürzt als Haltung wiedergegeben werden, mit der Vereine und Sicherheitsdienste auf die Veränderungen in den Kurven reagiert haben.



«Schande für die Schweiz»



Die aus Unverständnis resultierende Ablehnung verschärfte sich in der Schweiz ab dem neuen Jahrtausend, als Verband und Vereine im Zuge der EM-Bewerbung die Schraube anzogen, um der UEFA das Bild einer möglichst sicheren Fussballschweiz zu vermitteln. Es hagelte plötzlich willkürliche Stadionverbote, der FC. St. Gallen erfand den Filz-Container für Gästefans, und die Rauchbombe, die zu Beginn der Champions-League-Partie FC Basel-Spartak Moskau gezündet wurde, wurde zur «Schande für die Schweiz». Dass die Juristen des FCZ genau zu jener Zeit per Gericht die Kausalhaftung bodigten, ist vor diesem Hintergrund nicht mehr als nebensächlich. Die Atmosphäre war bereits nachhaltig vergiftet, eine Schlichtungsstelle nicht in Sicht.

Mehr denn je wurde in dieser Situation deutlich, wie sehr professionnelle Fanarbeit im Schweizer Fussball ein Fremdwort ist. In Deutschland seit 20 Jahren gang und gäbe, beteiligen sich hier lediglich der Grasshopper Club (seit 2001) und der FC Basel (seit 2003) an einem Fanprojekt. Es fehlt in der Schweiz in hohem Masse an fachlicher Kompetenz in Verband und Vereinen, wenn es darum geht, Fan-Anliegen aufzunehmen, Ereignisse einzuordnen und Dinge beim korrekten Namen zu nennen. «Fanprojekte sorgen für eine stabile Kommunikationsstruktur: Zum Verein, zur Polizei, in den Szenen», weiss Michael Gabriel. Wo nicht mehr geredet wird oder gar nie geredet wurde, siehts düster aus.

Die Vorkommnisse am Rande der Spiele Bellinzona-GC, Baden-St. Gallen, Sion-Servette oder FCZ-FCB einzig auf die unterentwickelte Fan-Arbeit zurückzuführen, wäre naiv. Die Ausschreitungen haben sehr viel mit adoleszentem Chauvinismus, unseligem Mitläufertum und zuletzt auch medialer Aufstachelung zu tun, und die Meinungsmacher in den Fanblöcken sind deshalb gefordert. Ebenso naiv wäre es indessen, einen Zusammenhang zwischen latenter Kriminalisierung von Fankurven und deren Verhalten im Grenzbereich des Erlaubten in Abrede zu stellen. Wer vom Verein als «Abschaum» betitelt wird, hat wenig zu verlieren.

In Leserbriefen wurde nach den Randalen verschiedentlich gefordert, die bestehenden Fanprojekte zu begraben, man hätte ja nun gesehen, dass sie nichts bringen – als wären Ampeln überflüssig, bloss weil regelmässig bei rot über die Kreuzung gefahren wird. Gleichzeitig wird der Ruf nach mehr Repression immer lauter: Der Hooligandatei (s. Kasten) soll eine Lex Euro mit Notrecht gegen Unliebsame folgen (Sonntags Zeitung vom 7. 11.). An einer Pressekonferenz der Grünen in Bern wurde vergangene Woche endlich auch das Thema Fanarbeit in die öffentliche Diskussion eingebracht. Die Grünen fordern im Hinblick auf die Euro 2008 eine Professionalisierung der Fanarbeit sowie die Einrichtung von Fachstellen und werden die Forderung mit Vorstössen auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene unterstreichen.

Ignoranz und Horrorszenarien



Die Bewegung, die in den letzten Wochen in die Fan-Debatte gekommen ist, lässt sich eindeutig an der bevorstehenden EM 2008 festmachen. Umso erstaunlicher, dass die zuständige Stelle dabei unbeirrt bleibt. Für Christian Mutschler, Turnierdirektor des Schweizer Teils der Euro 2008, haben die jüngsten Ausschreitungen gesellschaftliche Ursachen. «Fussball an sich hat kein Gewaltpotenzial», glaubt Mutschler. Er will es sich nicht anmassen, zu politischen Fragen wie etwa der Einrichtung einer Hooligandatei Stellung zu beziehen. Eben so wenig möchte er sich zu Fanprojekten äussern. «Die Euro ist ein Turnier von drei Wochen, was hat das mit Fanarbeit bei Schweizer Klubs zu tun?», fragt Mutschler gereizt. Dass bestehende und entstehende Fan-Fachstellen an den Austragungsorten eine Fanbetreuung während der EM vereinfachen könnten, stellt der Turnierdirektor in Abrede: «Wir müssen den Gästen einen angenehmen Aufenthalt ermöglichen, dazu braucht es keine Fanarbeiter.»

An der EM 2008 werde die Schweiz mit «wirklich gewalttätigen Fans konfrontiert», sagt SVP-Nationalrat Simon Schenk in der Sonntags Zeitung. Wer im Sommer an der EM 2004 in Portugal war, hat Mühe, dem Mann zu folgen. Fanprojekte sind eine Chance für Vereine, Polizei und Behörden, in der verworrenen Situation rund um Schweizer Fussballstadien Hand zu bieten für neue Lösungen und mehr Klarheit. Wo Horrorszenarien und Ignoranz die öffentliche Meinung prägen, wäre es sinnvoll, diese Chance zu packen.




Hooligandatei



Die Idee eines Bundesgesetzes über «Massnahmen gegen Rassismus, Hooliganismus und Gewaltpropaganda» stammt von Ruth Metzler. Ihr Nachfolger, SVP-Bundesrat Blocher, will daran festhalten, obwohl seine Partei den Entwurf als einzige Bundesratspartei bekämpft («Unsinn, teures Rassismus-Gefasel»). Um Hooliganismus erweitert wurde das Gesetz mit dem Zuschlag für die Euro 2008, geschielt wurde dabei auf die seit 1994 eingerichtete Datei «Gewalttäter Sport» in Deutschland. Dort werden alle registriert, die im Zusammenhang mit Sportereignissen aufgefallen sind, egal ob Schläger oder Fackelzünder. Angaben zu Personen, die an Fussballspielen aufgeriffen werden, werden in der Schweiz heute schon an die Polizei weitergegeben. Wird die Hooligandatei Tatsache, droht ein Fussballfan, der mit einem Rauchtopf erwischt wird, in der selben Kartei zu landen wie ein Rechtsextremer, der eine Asylunterkunft angreift.



Aus : Wochenzeitung WoZ, 11. November 2004

Zitat von »'Olaf Schubert«

"Fahrrad fahren ist auch nichts anderes als veganes Reiten."

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23.11.2004, 14:28

interessanter artikel, aber ich vermute, dass das hier keinen interessiert :) ok mich interessiert es schon, allerdings weiss ich nicht gross was ich schreiben soll...
in deutschland sind pyros im stadion tabu und ich hab noch nie welche gesehen und ich finde oftmals wird von seite der clubs und des dfb zu wenig unternommen gegen spacken... ich sag nur tatort stadion

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23.11.2004, 16:04

und wieso ist es erstaunlich, dass dieser bericht aus einer linken zeitung kommt? ?(

4

23.11.2004, 16:16

verstehe ich jetzt auch nicht wirklich. Extrem links ist die WoZ auch nicht, sondern lediglich die einzige Schweizer Zeitung die keinen Wirtschaftskurs fährt und unabhängig und objektive berichtet. Da werden halt auch Themen aufgegriffen die in anderen Zeitungen vernachlässigt werden.


btw: Interessanter Artikel ;)

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23.11.2004, 20:26

Zitat

Original von SenF_EsoX
und wieso ist es erstaunlich, dass dieser bericht aus einer linken zeitung kommt? ?(


weil ich von der WoZ sowas nicht erwartet hätte, so ein Thema so umfassend aufzugreifen