Von Stefan Schrahe
Ich bin Albert Einstein. Ich bin aber auch Ludwig Erhard oder Johann
Wolfgang von Goethe. Ich bin sogar Beate Uhse. Auf jeden Fall aber bin
ich Deutschland. Das zumindest entnehme ich den Plakaten und
Fernsehspots, die mir seit Wochen ein schlechtes Gewissen und klar
machen wollen, es läge an Menschen wie mir - als Angestellter immerhin
seit siebzehn Jahren Schöpfer von gesellschaftlichem Mehrwert sowie
braver Steuer- und Beitragszahler für alle sozialen Sicherungssysteme -,
dass immer noch kein Ruck durch dieses Land ginge und Deutschland wieder
nach vorne käme. An Menschen also, die endlich die Ärmel hochkrempeln
und - mit was auch immer - anfangen sollen.
»Geh' runter von der Bremse«, plärrt mir ein freches kleines Mädchen
entgegen, das man dafür eigentlich körperlich züchtigen sollte. »Reiß'
Bäume aus« rät mir Harald Schmidt. Und Erkan von »Erkan & Stefan«
fordert mich auf: »Meckere nicht über Dein Land, sondern biete ihm Hilfe
an«. Tu' ich doch gar nicht, bin ich geneigt zu antworten, aber Günter
Jauch ermahnt mich väterlich: »Behandle Dein Land doch einfach wie einen
guten Freund.«
Wie bitte?
Erstens frage ich mich, seit wann Günter Jauch und ich uns duzen (obwohl
er bei »Wer wird Millionär« immer wieder rückfällig wird und zum »Sie«
übergeht) - und zweitens, ob wir in den letzten Jahren wirklich auf dem
selben Planet gelebt haben. Denn waren es nicht vor allem Focus, Stern
und Spiegel, die ständig über Deutschland gemeckert haben? Und hat nicht
etwa die Bild-Zeitung seit Jahren mit Negativ-Schlagzeilen (wie »Die
üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer«, »EU schafft Deutsch ab« oder
»Entscheiden Türken die Wahl?«) systematisch zur schlechten Stimmung
beigetragen, weil längst erwiesen ist, dass Meldungen, bei denen eine
Sau durchs Land getrieben wird, den Verkauf am Kiosk beflügeln? Hat
nicht »Bild« sogar bundesweit die »Schnauze voll«-Aufkleber verteilt,
die mir nicht nur immer häufiger von den Kofferraumdeckeln älterer Autos
entgegen prangen, sondern die auch Vorlage für NPD-Plakate im
Bundestagswahlkampf waren?
Offenbar alles ein Missverständnis. Denn der Axel Springer Verlag ist
ebenso wie der Spiegel-Verlag oder Gruner+Jahr eines der 20
Medienunternehmen, die sich in der Initiative »Partner für Innovation«
zusammengeschlossen haben, um endlich die miese Stimmung zu beseitigen
und Werbung für den Standort Deutschland zu machen. 20 Medienunternehmen
- von ProSieben über RTL, Premiere und die ARD -, die es jetzt anpacken
wollen. Beziehungsweise uns auffordern, dass wir es endlich anpacken.
»Wie wäre es, wenn du dich mal wieder selbst anfeuerst?« fragt mich
Katharina Witt in leicht vorwurfsvollem Ton. Vielleicht meint sie aber
auch gar nicht mich. Sondern die fünf Millionen Arbeitslosen. Die einem
mit ihrer schlechten Stimmung ja auch wirklich den Spaß verderben
können. Aber meinen die drei Werftarbeiter auch Hartz IV-Empfänger, wenn
sie: »Egal, wo Du arbeitest, du hältst den Laden zusammen« in die Kamera
sagen? Welchen Laden? Das Sozialamt? Wie auch immer. Justus Frantz sagt
klar, was er erwartet: »Bring' die beste Leistung, zu der du fähig
bist«, ermahnt er uns alle und Walter Kempowski beseitigt endgültig
jeden noch bestehenden Zweifel: »Du bist Deutschland«, sagt er mit
Betonung auf dem »Du« und reckt mir seinen Zeigefinger entgegen.
Ich also. Und die anderen 82 Millionen Ichs. Wir sind verantwortlich für
die Misere.
Nicht Wirtschaftskapitäne wie Jürgen Schrempp, der als größter deutscher
Kapitalvernichter nach dem Krieg immer noch von Bunte, Wirtschaftswoche
oder Capital hofiert wird - also jenen, die Medienpartner von »Du bist
Deutschland« sind. Auch nicht die Chefs der 30 Dax-Unternehmen, die zwar
seit Jahren kaum noch Steuern zahlen, dafür aber zigtausende
Arbeitsplätze abgebaut haben, die selbst durch ein Beziehungsnetz von
etlichen Aufsichtsratsposten abgesichert sind, in Talkshows aber gerne
über die schlechten Wettbewerbsbedingungen oder unflexible Arbeiter
klagen. Und erst recht nicht die Politiker, die zwar über schlechte
Schüler schimpfen und das miserable Abschneiden bei der Pisa-Studie
ankreiden, sich aber monatelang und kleinkariert in
Föderalismus-Kommissionen über Ganztagsschulen streiten.
Nein, die alle sind nicht schuld. Wir sind es. Weil wir uns nicht mehr
die Hände schmutzig machen wollen, wie mir der Autoschlosser im »Du bist
Deutschland«-TV-Spot in breitem Sächsisch erklärt. Andere machen sich
die Hände gerne schmutzig. Klaus Esser etwa, der Mannesmann verscherbelt
hat, weil Vodafone ihm mit einer Abfindung von 15 Millionen Euro
gewunken hat. Oder Gewerkschafter vom Schlage eines Klaus Zwickel, die
das alles durchgewunken haben. Oder die Betriebsräte von VW, die mal
eben mit Edelprostituierten für 30.000 Euro auf die Andamanen geflogen
sind und sich allenfalls noch darüber beklagt haben, dass diese keinen
Sex ohne Kondome wollten. Die zeigen uns, wie's geht. Die geben nicht
nur auf der Autobahn Gas.
»Frage dich nicht, was die anderen für dich tun können,«, sagt mir ein
Chirurg mit Mundschutz im Spot, wobei ich annehme, dass er keiner der
Ärzte ist, die monatelang ohne Gegenleistung Praktika absolvieren
müssen, um wenigstens den Hauch einer Chance auf einen Job zu haben. Ach
so, denke ich, dann ist es wohl nicht so, dass die Fernsehintendanten
daran schuld sind, dass seit Jahren immer schlechtere, oberflächlichere
und verdummendere Programme gesendet werden und trotz Finanzierung aus
Gebühren der Bildungsauftrag zugunsten der Quote und der Eitelkeit
gegenüber dem Privatfernsehen oder -radio vergessen wird. Wahrscheinlich
bin ich daran schuld, in dem ich überhaupt noch einschalte. Ich - nicht
»Das Erste« oder »Das Zweite«. Denn die sind auch dabei, bei »Du bist
Deutschland«.
So wie fast alle dabei sind. Die Reinholds, Sandras und Ullis,
beziehungsweise Beckmanns, Maischbergers und Wickerts. Die gehen
beneidenswert lässig mit all dem um: mit Arbeitsplatz- und Sozialabbau.
Mit steigenden Preisen, sinkenden Reallöhnen und schlechter werdenden
Bildungsangeboten. Fühlt sich vielleicht auch vor dem Hintergrund
millionenschwerer Werbe- oder Honorarverträge irgendwie anders an. Aber
der kleine, aufmunternde Klaps ist bestimmt gut gemeint. »Du bist die
Hand. Du bist 82 Millionen«, sagt Oliver Kahn. Schön auch, dass Michael
Schumacher mitmacht, der zwar seit Jahren keine Steuern in Deutschland
zahlt, so aber immerhin doch hilft, Mut zu machen.
Den werden wir auch brauchen. Vor allem, um »Du bist Deutschland« zu
überstehen.