Folgendes meint ein Bremer Prof dazu:
Der Amoklauf von Winnenden:
„School Shooting“ - eine Geisteskrankheit?
Tim K. war in psychiatrischer Behandlung! Die Gemeinde der professionellen Betroffenen atmet auf. Der Massenmord von Winnenden ist geklärt: Dieser junge Mensch war krank, ein Psychopath, vielleicht sogar ein „Zombie“, wie ein Sprecher der deutschen Sportschützen ausführte, der sich ja bei seinen Waffenbrüdern auskennt; auf jeden Fall von schweren De pressionen geplagt, die sich schlussendlich in einem „erweiterten Suizid“ - welche zynischer Psychologismus! - entladen haben. Zudem, auch das passt ins genehme Bild, hatte er im Elternhaus leichten Zugang zu Waffen und Munition, ist vom Vater sogar in der „Kunst des Schießens“ unterwiesen wurden und war obendrein Besitzer von Computerspielen der einschlägigen Art. Das „Unfassbare“, wie ein junger Mensch, der als völlig „ruhig und unauffällig“ galt, der nie aggressiv geworden ist und eher schüchtern war, sich und 15 weitere Menschen vom Leben zum Tode befördern kann, ist nun leicht fassbar. Die seelische Störung, „seine Krankheit“, über die man dann auch gar nichts weiter wissen muss, erklärt einfach alles.
Prompt ist aus der „Unauffälligkeit“ von Tim K. - heutzutage eigentlich ein Lob für junge Men schen - ein Krankheitssymptom geworden. Dabei bestand diese doch wohl darin, dass er wie die meisten jungen Menschen in seinem Alter seinen Schulpflichten ebenso nachgekommen ist wie den Pflichten eines Sohnes „aus gutem Elternhaus“, dass er seine Hobbys gepflegt, sich z.B. an rohen Computerspielen vergnügt und beim Tischtennisspiel offensichtlich nichts dabei gefunden hat, dass die Spielverlierer lebend das Brett verlassen konnten. Und seine „Zurückgezogenheit“ hatte ihn auch nicht daran gehindert, andere Jugendliche einzuladen und mit ihnen jenen Späßen nachzuge hen, die in dieser Generation einen Unterhaltungswert besitzen. Kurz, er hat gelebt und funktioniert wie die meisten anderen Gleichalterigen auch. Weswegen auch jene Psycho-Fahnder einfach – dop pelt - dumm dastehen, die nicht irre werden, nach jedem Amoklauf von jungen unauffälligen Men schen immer wieder aufs Neue und unbedingt „Muster“ und „patterns“ finden zu wollen, an denen man den jugendlichen Massenmörder vor seiner Tat erkennt, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Doppelt dumm, weil sich diese Gilde erstens immer wieder und ungerührt vergeblich auf die Suche macht, und weil sie sich zweitens dabei fleißig dem Gedanken verweigert, dass unauffällige Ju gendliche eben keine Monster oder Bestien, sondern normale Kids sind. Wie Millionen anderer ma chen sie ihre frustrierenden Erfahrungen in Familie, Schule und Bekanntenkreis, haben diese – wie dies Millionen anderer auch tun – in ihrem Kopf eingeschlossen, sie bis hin zu Racheplänen aufge kocht und dann in aller Regel im Geiste einige ihrer Lehrer, Vorgesetzen, Verwandten oder Bekann ten „fertig gemacht“ – wie Millionen andere das täglich tun. Offensichtlich geraten sich solche Ra che- und Tötungsphantasien von Kids und ihr alltägliches Funktionieren in dieser Gesellschaft erst einmal gar nicht in die Quere; es ist sogar das Ärgernis zu konstatieren, dass viele Menschen, junge und alte, weibliche und männliche, ihren chronisch gewordenen Alltagsfrust offensichtlich bes ser aushalten, wenn sie nach Feierabend oder Schulschluss im Geiste oder virtuell am PC ihren Chef oder Klassenlehrer umbringen, der ihnen am nächsten Tag sehr real wieder rücksichtslos dik tiert, wo es lang zu gehen hat.
Natürlich ist der Schritt von der Mordphantasie zum Massenmord nicht zwingend, ausgeschlossen aber eben auch nicht. Wenn es so ein Jugendlicher schafft, die anerzogenen Moral- und Rechts schranken beiseite zu schieben, wenn sich sein Racheanliegen bei ihm zu einer Frage seiner Ehre ausgewachsen hat, mit der das Wissen um die Konsequenzen seiner Tat in den Hintergrund rückt, dann sucht er sich eben die Mittel für seinen Rachefeldzug und findet sie – ob nun im Tresor des Vaters oder auf dem Waffenmarkt. „Unfassbar“ ist all das nicht, und dass sich „die Tat jeder rationalen Deu tung entziehe“, wie es nach jedem Amoklauf in Rahmen der ritualisierten Betroffenheitsorgien re gelmäßig heißt – so etwas fällt den Wills, Plaßbergs oder Illners bei „Kollateralschäden“ auf Kriegsschauplätzen im Nahen Osten nie ein -, ist ein Urteil, das nicht zur Kenntnis nehmen will, was da passiert ist. Der Tat selbst und ihren Umständen lässt sich bereits so einiges entnehmen - vielleicht sogar schlüssiger als den Chat-Ankündigungen von Tätern, in denen sie auch nur ihre Motivlage mehr oder weniger ungeordnet ausbreiten.
So wird es wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu unrühmlichen Ehren gelangten Amok läufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen und dort ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten. We der haben diese Jugendlichen in der Fußgängerzone, noch bei einer Sportveranstaltung oder im Kaufhaus um sich geballert. Sie haben ganz bewusst diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als Repräsentanten einer Institution umge bracht, die sie als verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muss man ernst nehmen und sollte es nicht als rein subjektive Deu tung eines kranken Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist zum einen eine Lernkonkurrenzveranstaltung, in der Lehrer über zukünf tige Lebenschancen junger Menschen befinden, und auf die Schüler zum anderen heute ganz selbsttätig eine An erkennungskonkurrenz drauf satteln, die manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur in jener Konkurrenz, die allein zählt – nicht selten, weil sie mit der ohnehin schon abgeschlossen haben.
Die eine Konkurrenz, das ist die schulisch inszenierte Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und Masse durchsortiert wird, sprich: in seiner Mehrzahl von weiterführen der Bildung und d.h. von weniger unerfreulichen Berufen ausgeschlossen wird; eine Konkurrenz, deren Protagonisten wissen, warum sie am Jahresende anlässlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, dass sich keiner ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich „mit dem Zeugnis“ nicht nach Hause traut; eine Lernkonkurrenz, in der sich Schüler immer zugleich das Rüstzeug fürs ganz normale Durchwursteln in der sich anschließenden Konkurrenz auf dem Ar beitsmarkt und im Berufsleben aneignen: Denn sie erfahren, dass sie nur dann nicht zu den Verlierern ge hören, wenn sie dazu beitragen, andere zu Verlierern zu machen, was Anschwärzen ebenso ein schließt, wie Neid und Missgunst; wenn sie dem „Schein“ den Vorrang über ihr „Sein“ geben, also Können vortäuschen, andere der Täuschung überführen und was der weiteren Tugenden des gar nicht so „heimlichen Lehrplans“ der Konkurrenz mehr sind. Schüler selbst ergänzen heutzutage die se Leistungskonkurrenz, deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel - dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen - sie gar nicht in der Hand haben und de ren Resultaten sie ohnmächtig gegenüber stehen, um eine eigene, eben die Anerkennungskonkurrenz. In der führen sie sich als die Herren ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und des Mobbing – geschlechtsspezifisch sortiert – stehen dabei hoch im Kurs. Da wird geklaut und er presst, geschlagen und ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art abverlangt. Gelernt haben die Kids, dass der Mensch ohne Selbstbewusstsein nichts ist, dass man also mit einer Portion Selbstbewusstsein die Zumutungen von Schule, Familie und Straße besser aushält – und nur deswegen ist das Selbstbewusstsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das über setzen sie sich in den Selbstbefund, irgendwie „Superstar“ zu sein, wenn nicht der „Deutschlands“, dann doch wenigstens der der Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der sich hier aus tobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatle ben derart okkupiert hat, dass jede vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer individu ellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue Klamot ten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen Deforma tionen anhängen. Wenn zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch „Ich bin wertvoll!“ zieren – das fällt sachgemäß unter Ethik-Erziehung - , dann darf man sich endgültig nicht wundern, dass dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage: „Bin ich wirklich wertvoll?“, wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss: „Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!“, umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge ums eigene Selbstbewusstsein durchaus beide brutalen Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.
Noch etwas ist der Tat zu entnehmen. Täter machen ihren „Frust“ zur Privatsache, die andere nicht nur nichts angeht, die sogar vor anderen geheim gehalten werden muss. Nicht zuletzt deswe gen ist Tim K. „unauffällig“. Denn wer seine Schwächen, Beschädigungen und jene Ohnmacht of fenbart, die seine tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen, der erfährt nur allzu oft, dass ihm all dies als seine höchst persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um diese geschlagen wird. Der weiß auch, dass jede zugegebene Schwäche in allen Konkurrenzlagen – solchen, an denen die Existenz, und solchen, an denen das Selbstbewusstsein hängt - von anderen brutal zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann wird man als Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert und be handelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die Welt der Heranwachsenden nur aus „coolen Ty pen“ besteht, die sich den psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen. Als ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den ziemlich verkehrten Schluss, selbst einmal Macht, und gelegent lich sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht über Leben und Tod auszuüben.
So etwas registrieren die einschlägigen Talkshow-Runden hier und da. Jedoch nur um blöd anzu mahnen, dass „wir alle“ mehr „aufeinander zugehen“, uns „mehr umeinander kümmern“ sollten und dass den Lehrern „mehr Zeit für die lieben Kleinen“ eingeräumt werden müsste. Lauter Idealisie rungen herrschender Konkurrenzverhältnisse werden da als konkrete Vorschläge ausgerechnet von de nen unterbreitet, die gerade eine Schulreform beschlossen haben, in der schulischer Leis tungsstress verschärft, Konkurrenz unter Lehrern institutionalisiert, Schulzeit verkürzt, das standar disierte Testwesen ins Zentrum des Unterrichts gerückt wird und allen Ernstes eine Erziehung zu mehr „Frustrationstoleranz“ jede Überlegung, was sich gegen die Ursachen des „Frusts“ machen lässt, erschlägt; die aber auch an anderen Fronten, so auf dem Arbeitsmarkt, in der Berufswelt, in den Sozialsystemen, auf dem Wohnungsmarkt und in der Familie dafür sorgen, dass den Bürgern als Mittel zur Sicherung ihrer Privatexistenz allein der Weg bleibt, sich gegen andere Privatexistenzen - mit erlaubten Mitteln oder solchen am Rande der Legalität – konkurrierend durchsetzen. Da lässt sich gut „aufeinander zu gehen“, da lässt sich gut um den „Mitmenschen kümmern“! Neu ist das alles nicht, aber heftiger wird’s schon. Weswegen es erneut nicht verwundern darf, dass Menschen, deren Kopf randvoll ist mit unbewältigten Lebens- und Anerkennungsproblemen, diese solange mit sich selbst ausmachen, bis sie meinen, der Welt auf jene Weise Beweise für ihren erfundenen Selbstwerts zeigen zu müssen, die sie von der Welt gelernt haben: als Machtausübung mit den Mitteln der Gewalt!